Juli 17, 2013 6:16

Maybe Baby

„Die Vorurteile hängen den Menschen an, wie das Moos den Bäumen.“ – Wie wahr dieses Zitat tatsächlich ist, musste ich in den vergangenen Wochen am eigenen Leib erfahren. Nach meinem ersten Mom-Kill nämlich wurde mir bewusst, dass mich meine eigenen Ressentiments eines der besten Autorenspiele der vergangenen Jahre beraubt hatten: Edmund McMillens und Florian Himsls „The Binding of Isaac“.

Screenshot – The Binding of Isaac

„Es liegt an mir und nicht an dir!“ – Intensiv habe ich mich mit der Frage beschäftigt, weshalb mir solch ein Juwel von einem Spiel so lange durch die Lappen gehen konnte. An zu geringer medialer Aufmerksamkeit kann es nicht gelegen haben, war „Binding of Isaac“ zur Zeit seines Erscheinens doch in aller Munde. Abgeschreckt haben mich dabei nicht die Art oder Anzahl der Personen, die das Spiel öffentlich propagiert haben (Hype!), sondern die Art und Weise wie die geschehen ist. „The Binding of Isaac“ wurde vielfach beschrieben als Twin-Stick-Shooter, als Roguelike oder als Anleihe an „Legend of Zelda“. Derartige Labels kennzeichnen zwar formal zutreffende Attribute „Isaacs“, den eigentlichen Kern des Spiels erfassen sie jedoch nicht. Analog dazu erklären Bezeichnungen wie Superheldenfilm, Comic-Adaption, Liebes- oder Coming-out-of-Age-Film auch nicht hinlänglich, weshalb „Scott Pilgrim vs. the World“ ein wundervoller Film ist. Das Werk wird vor dem inneren Auge erst dann lebendig, wenn man beginnt, seine Inszenierung, die Mimik der Darstellerinnen und Darsteller und das jede Nerd-Seele durchdringende Skript zu beschreiben.

„Ist das überhaupt noch Indie?“ – Nicht allein sein Inhalt macht ein gutes Spiel aus, sondern wie es den Menschen, der davor sitzt, verändert. Die Beantwortung der Frage, welche Empfindungen „The Binding of Isaac“ in der Lage ist, hervorzurufen – sieht man einmal von triumphaler Euphorie und zerschmetternder Niederlage ab – ist die Kritiker-Szene leider oft schuldig geblieben. Das ist auch nicht verwunderlich, denn schließlich ist dies in einhundertundvierzig Zeichen auch nicht ganz einfach. Es wundert mich, dass so viele, die die berüchtigte Out-of-Ten-Produkttestermentalität der alten Medien verteufeln, eine Form der Kritik gewählt haben, die Spielen, die sich schwer normieren lassen, nicht gerecht wird. Obwohl es gegen alles geht, was diese Spieledefinition einmal ausgemacht hat, folgen viele Indie Games einem vorgegebenen Muster. Produziert wird, was sich verkauft und es verkauft sich nur, was sich in zwei Zeilen beschreiben lässt. Geschuldet ist dies der Flut an neuen Titeln, die sich minütlich über App Stores, Web Shops und Distributionsdienste ergießt. Dass Spiele häufig auf Facebook oder Twitter besprochen werden, ist zu gleichen Teilen Symptom und Ursache dieser Entwicklung. Doch nicht die Anzahl der Spiele auf dem Markt sind das Problem, sondern die Anzahl der Spiele, deren Entwicklung einer Formel folgt, wie einem Cocktailrezept. Spiele werden zu häufig in Tropen dekonstruiert, anstatt die vollständige künstlerische Vision der Entwickler zu betrachten. So sie denn vorhanden ist und ihre Macher nicht nur auf Kompatiblität mit Marktmoden aus gewesen sind. Für mich kommt es darauf an, dass sich die Persönlichkeit der Entwickler manifestiert, wie zum Beispiel im „Isaac“-Vorgänger „Super Meat Boy“. Dessen Plot beruht zwar auch auf dem viel gescholtenen Damsel-in-distress-Tropus, am Ende verkehrt Edmund McMillen ihn jedoch ins Gegenteil und hät so einem Quasi-Standard des Genres den Spiegel vor. Ein exemplarischer Schritt für den Designer-Querkopf, der nichts auf Standards gibt und daher auch schon einmal ein explizites Spiel über Geschlechtskrankheiten, „Cunt“, macht.

„What is game?“ – Lustigerweise etabliert sich gerade eine Art Gegenbewegung zum Speed-Journalismus, die dort zudem oft nicht besonders geschätzt wird: Die Let’s-Player. Nun lässt sich natürlich argumentieren, dass bevor man anderen beim Spielen zusieht, man es auch gleich selbst tun könnte. Einen gravierenden Vorteil hat diese Präsentationsform allerdings gegenüber jeder Form von Kurzkritik: Sie zeigt ein quasi-objektives (Bewegt-)Bild vom Spiel. Auch wenn die Kommentatoren einmal keine kompetente Einschätzung des Spiels liefern, werden Zuschauer von einem Titel, der beispielsweise viel Grind abverlangt, schnell gelangweilt sein und sich ein entsprechendes Urteil bilden können. Ein Spiel wie „Binding of Isaac“ dagegen spielt sich, dank Zufallsgenerierung und hunderten verschiedenen Gegenständen bei jedem neuen Durchgang anders als beim voarngegangenen, zudem ergibt sich dabei immer wieder ein neues Bild. Aus diesem Grund ist das seit zwei Jahren auf dem Markt befindliche Spiel auch immer noch ein Dauerbrenner bei Youtubern und Streamern: es wird nie langweilig für das Auge.

Screenshot – The Binding of Isaac

„50 Shades of Grey“ – Doch genug der Schuldzuweisungen, nun soll erst einmal mit meinen eigenen Vorurteilen aufgeräumt werden. Nummer eins: „Binding of Isaac“ ist das „Feuchtgebiete“ unter den Videospielen. Auf den ersten Blick mutet es so an, als hätte Ed McMillen das Spiel einzig zu dem Zweck entwickelt, möglichst viele Fäkalien, Körperflüssigkeiten, innere Organe und satanistische Symbole darin unterzubringen. Und vermutlich ist diese Annahme auch nicht ganz verkehrt. Das wichtigste Anliegen von „Binding of Isaac“ scheint jedoch nicht, anzuecken und Menschen vor den Kopf zu stoßen, sondern es steckt ein zutiefst aufklärerischer Gedanke dahinter. Es ist durch und durch ein Plädoyer gegen alle Arten von Fanatismus, manifestiert in der bibeltreuen Mutter, und genau damit hat es mich auch gefangen. Ich bin bekannt dafür, dass ich in Diskussionen nicht zimperlich agiere und eine ziemlich gefestigte Meinung zu diversen Themen besitze, so auch bei Videospielen. Zu sehen, dass „Isaac“ ein vielschichtigeres und tiefgehenderes Spiel ist als der Dungeoncrawler mit Ekel-Elementen aus meiner Vorstellung, war ein einschneidendes Erlebnis. Nicht nur transportiert das Spiel die alttestamentarische Erzählung der Opferung Isaaks in das neuzeitliche White-Trash-Millieu Nordamerikas, das zufällige Auffinden von Spezialfähigkeiten, Bossgegnern und Items erlaubt es zudem, seine ganz eigene Story davon zu erzählen, wie man den Widrigkeiten zum Trotz gewonnen hat oder am Ende doch spektakulär gescheitert ist. Dieser Grad von Individualisierbarkeit ist sonst oft Open-World-Spielen wie „Far Cry 2“ vorbehalten und dürfte ein maßgebender Faktor ihres Erfolges sein.

„I’m up all night to get lucky“ – Vorurteil Nummer zwei: Ich habe „The Binding of Isaac“ für einen Twitch-Shooter gehalten, den allein Leute im Alter von maximal zwanzig und/oder mit ADHS in der Lage sind, zu beherrschen. An sich ist auch gar nichts verkehrt an Spielen wie „Geometry Wars“, „Super Hexagon“ & Co., nur sind sie eben nichts für mich. Vielen mag es anders gehen, doch ich empfinde keine Entspannung beim Gedanken, dass das Spiel jeden Augenblick durch den kleinten Fehltritt vorbei sein könnte. Eben so wenig finde ich Gefallen daran, vom Zufall, anstatt von meinen eigenen Fähigkeiten abhängig zu sein. Edmund McMillen ist allerdings ein absoluter Geniestreich gelungen, indem er das ansonsten unverzeihlich schwere Spiel durch den Einsatz eines starken Zufallselements annähernd perfekt ausbalanciert hat. Irgendwann im Verlauf des prozedural generierten Spiels wird einem, in Form eines Carry-Items, ein dicker Brocken vor die Füße geworfen, es gilt nur, bis dahin nicht zu verhungern. Ein mächtiges Tränen-Upgrade, ein Mini-Begleiter, der zusammen mit der Spielfigur feuert oder ein kurzzeitig zu aktivierender unzerstörbarer Schild senken die Chance, im Kugelhagel der Bullet-Hell-Projektile zu sterben, signifikant. Natürlich zählen weiterhin gute Reflexe, die strategische Nutzung der gegebenen Resourcen (namentlich Bomben und Schlüsel, um Bonus-Gegenstände zutage zu fördern) und das Zunutzemachen vorhandener Informationen wie der möglichen Raumabfolge, um auch tatsächlich einen Sieg davon zu tragen. Aber „Isaac“ ohne überwätigende Fähigkeiten wie den alles durchdringenden Brimstone-Strahl wäre wie „Mario Kart“ ohne Bananenschale oder Koopa-Panzer.

Screenshot – The Binding of Isaac

„Forever alone!“ – Einer Eigenschaft von „Binding of Isaac“ kann ich leider immer noch nichts abgewinnen… Vorurteil Nummer drei: „Binding of Isaac“ ist zusammen geborgt aus Meta-Elementen. Tatsächlich ist „Isaac“ voll mit Memes wie Troll-Gesicht und verwandten Witzfiguren, dem „I Am Error“-Charakter aus „The Adventure of Link“, Pac Man, Super Marios 1UP-Pilz und einem Porpourri von Edmund McMillens älteren Eigenkreationen. Nun ist Humor ein Thema über das sich schlecht streiten lässt und ich gönne jedem, der dem ein Lächeln abgewinnen kann, sein Amusement, für mich persönlich sind Memes jedoch die Sponti-Sprüche des 21. Jahrhunderts. Jede Form von Mashup oder Cross-Over im Videospiel beraubt mich leider oft zu sehr der Immersion, um es zu genießen. Andererseits hat McMillen außergewöhnlich gute Arbeit dabei geleistet, das besondere Motiv von „Binding of Isaac“, Gewalt in der Familie und religiösen Fundamentalismus, in alle möglichen Aspekte des Spiels zu integrieren. Angefangen bei der adäquaten Wahl der Waffen (Isaac bleibt allein die Möglichkeit, sich mittels Tränen gegen die gewalttätige Mutter zur Wehr zu setzen; drakonische Bestrafungen mittels Haushaltsgegenständen erhöhen die Geschwindigkeit des Kleinkinds), über die passende Charakterisierung der Gegner (die apokalyptischen Reiter, die sieben personifizierten Todsünden und archaische Figuren wie Krampus) und Gegenstände (Pharmazeutika, Tarotkarten und was sich noch alles im Hausrat einer Einwohnerin eines Trailer-Parks finden ließe), bis zur choralen Begleitmusik von Danny Baranowski – die Beispiele sind zu vielfältig, um sie alle aufzuzählen. Die Aussicht auf derart unkonventionelle Spielinhalte haben anfänglich ein so großes Unbehagen in mir ausgelöst, dass ich „The Binding of Isaac“ zunächst vermieden habe wie der Teufel das Weihwasser. Die große Stärke von Ed McMillens Weirdo-Shooter liegt für mich darin, dass es mich dennoch irgendwann dazu bewegen konnte, aus meiner Komfortzone heraus zu treten, und das dürfen sich heutzutage nur noch die allerwenigsten Spiele auf die Fahne schreiben.


Author: nille | Permalink | Category: games